MARIE LUISE GRUHNE
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Texte der Künstlerin

DAEDALUS MISSES ICARUS

© Marie Luise Gruhne, 2024

Ein Portal schwebt skulpturhaft im Raum. Seiner architektonischen Natur widersprechend steht es nicht auf dem Boden. Mit Federn bedeckt, hängt es in der Luft – scheint zu fliegen

In diesem Widerspruch inszeniere ich sinnbildlich eine Kontroverse zwischen naturgesetzlichen Zusammenhängen und einem menschlichen Streben, das diese Gesetze übersieht – so wie es der Ikarusmetaphorik zu entnehmen ist. Ikarus kam bei seinem Flug der Sonne zu nahe. Vom Erfolg berauscht, vergaß er die Warnung seines Vaters Dädalus, die Gesetze der Natur zu beachten. Das Wachs seiner Flügel schmolz, die Federn lösten sich und es kam zum Absturz In meinen Objekten und Installationen erforsche und erarbeite ich mit meinen künstlerischen Mitteln Rückbindungen an archaische bzw. naturgesetzliche Strukturen als wirkendes Potential, suche hierüber das Innehalten in einer Zivilisation mit zunehmend schnelleren und wechselnden Strömungen. Ich suche nach etwas Dauerndem und finde es dort, wo es unserer Existenz als Bedingung zu Grunde liegt. Ich fühle es in dem Moment, wenn etwas im Gleichgewicht ist – sichtbar für mich werdend, wenn tragende und lastende Kräfte sich so ergänzen, dass Stabilität entsteht. Dann wirken die Kräfte der Schwerkraft – und damit Natur.

In diesem archaischen, gleichfalls architektonischen Existenzmuster, wie ich es für mich im Grundsatz in einem Tor oder Portal auf die einfachste Formel reduziert wiederkenne, wird für mich Dauer fühlbar, etwas, das immer „ist“ – unterhalb aller Zeitströmungen und Bewegungen. Ich knüpfe an diese Wirkungen in meinen Arbeiten an, mache mir diese Kraft fühlbar, beobachte ihre für mich oft urbildhafte Wirkung, erforsche sie dort, wo sie zerbricht oder gebrochen wird, im Dialog zwischen Stabilität und Destabilisierung.

FRAMING
Dialoge über Hemmung und Rückbindung

© Marie Luise Gruhne, 2024

Einführung zur Vernissage am 20. Oktober 2024

Mit der Installation „Framing“ reagiere ich als Teil einer Welt, in der viele von sich berichten, erschöpft vom Weltgeschehen zu sein, von Bad und Fake News, von Anforderungen, Steigerungsmodi, Zukunftsängsten. Begleitet von einem unterschwelligen Gefühl, sich gegenüber diesen Einflussnahmen nicht mit Kraft positionieren zu können und sich darin gefangen zu fühlen... In Framing gefangen. Der Blick auf die Welt wie in einem Rahmen gefangen.

Wir stehen hier an dem Anfang eines Weges. Der Zugang zum Mittelgang der Kirche – ein gewohnter Weg – ist blockiert durch etwas, das an ein Tor oder Portal erinnert. Aber es hat auch etwas von einem Rahmen. Es hemmt den Weg, anstatt zum Hindurchgehen einzuladen. Manche von Ihnen oder von Euch hat dies vielleicht beim Eintreten in die Kirche irritiert, ja vielleicht auch verärgert, nicht mehr wie gewohnt über den Mittelgang in die Kirche eintreten zu können auf diesem erhabenen Weg zum Altar. Manche hat es neugierig gemacht.

Durch den Rahmen hindurch fällt der Blick auf eine Bodencollage, die gepflastert ist von einer Flut von Zeitungsberichten – von negativen Nachrichten, von Bad und Fake News. Der Rahmen oder das Portal bzw. Tor ist umwickelt mit Verbandsmull. Das Portal scheint wie in einem Dialog auf Verleumdungen, Häme, Hass, üble Nachrede und Verurteilungen in diesen Nachrichten zu reagieren. Verletzung und Destabilisierung ist die Wirkung. Das Portal steht nicht auf dem Boden, hat den Boden unter sich verloren.

Mit diesem Bild nehme ich die allgemeine Erschöpfung auf, meine eigene und jene, die mir von so vielen Menschen entgegenkommt, ausgelöst durch das aktuelle Weltgeschehen, den Wirkungen der Medien, die in Konzentration Negatives deklinieren wie den Steigerungsmodi, denen wir uns dadurch ausgesetzt fühlen. Wie in diesem Rahmen gefangen, ist der Blick auf diese Nachrichten konzentriert.

Der Soziologe Hartmut Rosa, auf den ich noch näher zu sprechen komme, spricht von einer „mentalen Schließung“ durch diese Erschöpfung. Aus dieser Befindlichkeit heraus fehle die Kraft, sich anderen Menschen und deren Meinung, wenn sie sich von der eigenen unterscheidet, gegenüber zu öffnen. Und er beschreibt dies als Hemmnis für einen Fortbestand auch eines demokratischen Miteinander.

In meiner Ankündigung der Installation erweitere ich den Titel: „Framing, Dialoge über Hemmung und Rückbindung.“ Ich möchte Ihren Blick noch einmal auf den portalartigen Rahmen vor uns lenken: Er verbildlicht nicht nur „Eingrenzung“, sondern er hat auch eine Öffnung, so wie es einem Portal eigen ist. Hier deute ich bildhaft mit meinen Mitteln als Künstlerin eine Wendung an.

Als ich vor Jahren in meine künstlerischen Dialoge das Motiv eines Portals bzw. Tores aufnahm, tat ich das nicht als Abbildung, die mir gefällt, sondern weil von dieser architektonischen Struktur für mich eine tiefe geistige Wirkung ausging. Ich spürte in der Anschauung dieser Architektur Erhabenheit und fühlte, dass ich dabei zur Ruhe kam. Bei Betrachtenden meiner Objekte, Bilder hörte ich von ihnen vergleichbare Wirkungen. Einmal fragte mich jemand, ob er sich allein in mein Atelier setzen könne mit einem Glas Wein. Alleine ohne mich. Um Kraft zu holen.

Ich versuchte, die Wirkung zu begreifen und irgendwann wurde mir bewusst, dass sich in einem Tor oder Portal in seiner architektonischen Gestalt, bildhaft auf das einfachste reduziert, ein Gleichgewicht zwischen Tragen und Lasten mitteilt, so auch das Gesetz der Schwerkraft: Beides – Gleichgewicht und Schwerkraft – als grundlegendste Voraussetzung unserer Existenz, Halt gebend und von Dauer. Etwas, das immer „ist“ auf diesem Planeten, Naturgesetz an der Wurzel. Urbildhaft. Erlebbare Balance.

Es ist dieses Naturgesetzliche, das Streben nach einem Gleichgewicht, in dessen Anschauung ich zur Ruhe komme, etwas, auf das ich mich dauernd beziehen kann – rückbinden kann in meinem Fühlen, weil ich ein Teil davon bin – oder all das in mir trage.

Schließlich traf ich auf das Phänomen, dass Portale und Tore kulturübergreifend wiederholt in erhabenen Zusammenhängen auftauchen, im Kontext mit Gruppierungen, feierlichen Ritualen (Stone Henge, Tiwanako – Torkult/Bolivien) – immer geht es bei diesen Verortungen um ein Miteinander, um Sammlung, um Halt.

Ich arbeite seither mit dieser Wirkung in meinen Bildern. Suche darin immer wieder nach dieser Kraft. Oder ich breche sie, wie hier in dieser Installation, in dem ich ihre Verletzung zeige, wie dass sich eine Stabilität verliert.

Ein Tor oder Portal ist also für mich in seiner Struktur so etwas wie ein „Existenzmuster“ – wie ein Same, ein Ei, ein Kern, ein Kokon, eine Basis, in der Strukturen von etwas Naturgesetzlichen enthalten sind. Es kann auf Dich wirken, vergleichbar jenen Wirkungen, wenn Du vor der Unendlichkeit eines Meeres stehst oder vor einem mächtigen Berg oder in einem Wald – als Teil dieses lebendigen Organismus.

Es ist die Wahrnehmung von diesem Erhabenen, der Natur, das nach Adorno – sich dabei auf Goethes Faust beziehend – den Menschen zum Weinen bringe: „Darin (in der Wahrnehmung vor dem Erhabenen‘) tritt das Ich, geistig, aus der Gefangenschaft in sich selbst heraus.“ 1 „Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!“ 2 Der Mensch fühle seine Naturhaftigkeit.

In einer Ausstellung von mir 2019 machte mich der Kunsthistoriker Prof. Matthias Müller, der in der Finissage zu meiner Arbeit auch sprechen wird, in Reaktion auf meinen künstlerischen Ansatz auf den Soziologen Hartmut Rosa aufmerksam. Hartmut Rosa spricht von Resonanzerfahrungen, die unser „in die Welt gestellt sein“ verändern. Er spricht von Schwingungen, die in uns resonieren, wenn wir in die Natur gehen, wenn wir in erhabenen Räumen oder Zusammenhängen uns bewegen – wozu das Erleben von Natur, Musik oder Kunst gehöre. Und Kraft, die in uns dadurch entsteht.

Rosa: Im Grunde ist Resonanz die Theorie zu dem, was ich gerade schon als „Umarmung“ (hier meint er durch Musik) beschrieben habe. Es geht um die Erfahrung, dass uns etwas von innen berührt, über das wir keine, jedenfalls keine komplette Kontrolle haben, das wir aber willkommen heißen und das uns dann verwandelt ... und in uns ein Gefühl der Lebendigkeit entstehen lässt. 3

Jeder kennt das von uns, wenn wir in den Wald gehen, dass wir anders, oft leichter in uns, herauskommen, als wir ihn betreten haben. Es gelingt nicht immer, die Wirkung ist nicht immer verfügbar, aber irgendwann gelingt es. Eine Resonanzerfahrung gelingt, wenn wir nichts erwarten – dann, wenn wir uns berühren lassen.

Wir hören den Wald an. Es entsteht eine Antwortbeziehung – so drückt es Rosa aus: Die Antwort ist nicht etwas, das dem Suchenden als Richtung oder Frame für Wahrheit vorgegeben wird. Antwortbeziehung ist hier ein Dialog, ein Austausch, in dem wir Natur, Musik oder Gott anhören – uns rückbinden, wie Rosa es ausdrückt.

Wenn der Soziologe davon spricht, dass ein demokratisches Miteinander Religion brauche, dann meint er diese Rückbindungen als Grundlage für ein Miteinander – Kraft durch Resonanzerfahrungen.

Wirkungen, mit denen auch ich in meinen Werken arbeite. In meiner Installation inszeniere ich einen Dialog zwischen einer Hemmung durch „FRAMING“ und einem Spielraum für ihre Auflösung. Ich inszeniere das Zersetzende und die Möglichkeit einer Resonanzerfahrung – das Berührtwerden durch etwas Erhabenes. Eine bildhafte Analogie dazu.

Wenn ich meine Position hier vor dem „Frame der Verletzung“ aufgebe, einen neuen Blickwinkel auf den Weg dahinter über die Seitengänge suche, kann ich wahrnehmen, dass sich die Flut der Zeitungsartikel langsam auflöst und in eine Ebene aus Moos und Erde übergeht. Moos als einer der ältesten Pflanzen dieses Planeten, Moos das seit über 3 Millionen Jahren immer „ist“, in seinem „Sein“ besteht.

Natur in ihrer Wirkung und dauerhaften Suche nach Balance und einem Gleichgewicht legt sich über Bad and Fake News, über Täuschungen, Verleumdungen, über Hass und Häme. Wurzelhaft und erhaben. Und auf dem Altartisch liegt Erde. Erde, aus der immer wieder neu Leben entsteht.


1 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt am Main 1970, S. 410: „Weniger wird der Geist, wie Kant es möchte, vor der Natur seiner eigenen Superiorität gewahr als seiner Naturhaftigkeit. Dieser Augenblick bewegt das Subjekt vorm Erhabenen zum Weinen. Eingedenken der Natur löst den Trotz seiner Selbstsetzung: »Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!« Darin tritt das Ich, geistig, aus der Gefangenschaft in sich selbst heraus.“

2 Vgl. in: Johann Wolfgang von Goethe: Faust - Der Tragödie erster Teil. Tübingen: Cotta. 1808, Seite 55 oder https://de.wikisource.org/wiki/Seite:Faust_I_(Goethe)_055.jpg

3 Hartmut Rosa, zitiert aus: https://blog.kohlhammer.de/geschichte/heavy-metal-ist-fuer-mich-ein-trotziges-trotzdem/

FLUXUSBAUM

© Marie Luise Gruhne

Text, der direkt am Baum über ein QR-Code zu lesen ist:

INTERVENTION IM RAHMEN DES PROGRAMMS DES KUNSTVEREINS BELLEVUE-SAAL:

Am 29. Juni wurde der Fluxusbaum mit einem Umzug vom Kunstverein Bellevue-Saal in der Wilhelmstraße 32 ausgehend bis zur Pflanzstelle in der Friedrich-Ebert-Allee mit einer Gießaktion eingeweiht. Die Aktion wurde begleitet von der Künstlerin Marie Luise Gruhne, einer Tänzerin und einem Tänzer, dem Vorstand des Bellevue-Saals und der Öffentlichkeit.

Hinter der Pflanzung des FLUXUSBAUMES und seiner „Umarmung“ steht für Marie Luise Gruhne die Überlegung, mit der davon ausgehenden Wirkung den Fokus auf die Kraft der Natur zu richten: Naturgesetzliches als etwas von Dauer hinter den von uns Menschen gemachten, dem Wechsel der Zeiten unterworfenen Parallelgesetzen und Regeln. Ein junger Baum als Ausdruck von Hoffnung innerhalb der aktuellen öffentlichen Diskurse oder auch als Impuls für einen Aufbruch und eine neue Sicht auf die Zusammenhänge – heraus aus gewohnten Frames in Anknüpfung an ihre Fluxus-Schredderaktion im Bellevue-Saal im Kunstsommer 2023.

Die Idee der Partizipation in Fluxus, der demokratisierenden Teilhabe der Öffentlichkeit an künstlerischen Prozessen so auch an einem soziokulturellen Diskurs, setzt die Künstlerin nach ihrer Performance 2023 im Bellevue-Saal anlässlich FLUXUS SEX TIES in diesem Projekt nun fort.

Die Installation „Umarmung“ verbleibt dort 5 Jahre bis zum Abbau des Dreierbockes.

DIE GESCHICHTE ZUM BAUM

Projektentwicklung und Anknüpfung

Aufbruch und Neuanfang
In einer Bewegung zwischen Inszenierung und Zufall, zwischen Absicht und Absichtslosigkeit markierte die Performance "shred and clean up“ von Marie Luise Gruhne im Kunstsommer 2023 anlässlich FLUXUS SEXTIES den Dialog eines Ausstieges einer Künstlerin und eines Musikers aus traditionellen Kategorien und Regeln im Wechsel von Fortschritt und Rückfall.

https://www.youtube.com/watch?v=bHOIZV3sFxs.

Altes, Gewohntes – Kunstbegriffe, alte Konzepte, Musiknoten, Regeln, Erwartungen, Frames (auch jene durch Fake News wirkenden) in Schriftstücken oder Musiknoten manifestiert, wurden in der Performance im Kunstverein Bellevue-Saal geschreddert und schließlich zusammen mit dem Publikum in einer Raum greifenden Aktion weggekehrt.

Nach diesem Aufbruch stand die Frage nach etwas von Dauer im Raum. Nach etwas, dessen Existenz eigene, nicht kulturell bedingte Auswahlmechanismen, Kategorien oder Regeln zur Grundlage hat. Das Ergebnis war der Verkauf des Geschredderten und die Ankündigung der Künstlerin, von dem Erlös, die Pflanzung eines Baumes in Wiesbaden zu finanzieren, verbunden mit seiner Feier in 2024, zusammen mit den Besucherinnen und Besuchern der Performance und der Öffentlichkeit.

Der FLUXUSBAUM war entstanden.
Sinnbildlich stand der junge Baum in diesem Konzept für einen Neuanfang: Der Gedanke der Würdigung von Natur, so auch des Schutzes ihres Wachstums führte bei Marie Luise Gruhne zu der Idee, im Zusammenhang mit seiner Pflanzung um den Dreierbock, den junge Bäume zu Ihrer Stütze erhalten, eine „Umarmung“ als Installation herumzuführen. 

Realisation
Mit diesem Konzept kam es zu einer Anfrage beim Grünflächenamt in Wiesbaden wegen eines Platzes, der Pflanzung wie auch den Kauf des Baumes. Das Grünflächenamt reagierte mit dem Angebot, den FLUXUSBAUM in der Kulturmeile Wiesbadens, der Friedrich-Ebert-Allee, schräg gegenüber dem Hessischen Landesmuseum Wiesbaden zu pflanzen.

Am 18. März 2024 war es dann soweit, der Fluxusbaum wurde gepflanzt! und am 29. Juni 2024 bei sommerlichen Temperaturen feierte die Öffentlichkeit den ersten Blattwuchs des Baumes an dieser Stelle:

Das Opening für die Aktion fand vor dem Kunstverein Bellevue-Saal statt. Von dort aus gab es einen Umzug, der von einer Tänzerin und einem Tänzer begleitet, zum Fluxusbaum in der Friedrich-Ebert-Allee hinführte. Über die durch den Bellevue-Saal geladenen Gäste hinaus, zog der gesamte Umzug interessierte Passanten – Erwachsene und Kinder – in der Wilhelmstraße mit sich auf den Weg zum Fluxusbaum. Die Künstlerin Marie Luise Gruhne, die Tänzerin Ioulia Kokkokiou, der Tänzer Anton Rufakov  und ansonsten Teilnehmende zogen einen Leiterwagen hinter sich her mit großen und kleinen Gießkannen.

Angekommen an der Pflanzstelle, eröffneten Tänzerin und Tänzer – aus einer getanzten Umarmung heraus – die „Umarmung“ des Fluxusbaumes. Mit einem gemeinschaftlichen Gießen des Baumes wurde der Baum feierlich in das Grün der Stadt Wiesbaden aufgenommen.

Das Grünflächenamt Wiesbaden stellte zu diesem Anlass – in Anknüpfung an das erfolgreiche Pilotprojekt „Grünflächenamt stellt Wassercontainer zum Gießen“ – als Reaktion auf die Trockenheit der Bäume in Wiesbaden – am 29.09.24 einen Wassercontainer mit Brauchwasser zur Verfügung.

SHRED AND CLEAN UP

© Marie Luise Gruhne Juli / August 2023

Performance von Marie Luise Gruhne im Kunstverein Bellevue-Saal, anlässlich FLUXUS SEXTIES im Kunstsommer 2023, Wiesbaden mit dem Cellisten Cornelius Hummel

Der Boden ist raumfüllend mit Schredderpartikeln bedeckt, zeigt ornamenthaft den Grundriss eines Barockgartens – in der Inszenierung ist er Zitat einer ganz und gar künstlichen, erdachten Ordnung, mit der der Mensch seinerzeit suchte, die Natur zu bändigen und seinen Plänen anzupassen. Das im Bellevue-Saal, Wiesbaden auf dem Boden entwickelte Bild besteht aus geschredderten alten Briefen, Entwürfen, Musiknoten, Konzepten, Plänen. Wie all die anderen Intentionen, Erwartungen, Kategorisierungen in der Performance wird dieses Bild schließlich weggekehrt werden, für etwas Neues Platz schaffen.

Mein Konzept spielt mit dem Ansatz von Fluxus, ist eine Gratwanderung zwischen Inszenierung, Planung und Zufall: Eine bildende Künstlerin und ein Musiker begeben sich auf einen Weg, den eigenen Ansatz für ihr Kunstschaffen aufzulösen, Herkömmliches wegzukehren.

Wer genau hinsieht, erlebt kurze Dialoge zwischen den beiden Künstlern, bemüht mit einer gewissen Komik im Kampf um das Erhalten und Auflösen alter Ordnungen, zwischen Rückfall und Fortschritt wechselnd.

Mit einem ohrenbetäubenden Schreddergeräusch bricht die Künstlerin beim Schreddern alter Briefe und Konzepte in das melodische Spiel des Cellisten ein, stört seinen musikalischen Vortrag, erlebt schließlich selbst eine Störung bei der künstlerischen Vollendung ihres weißen Schredderkegels: Der Cellist, gehindert in seinem klassischen musikalischen Vortrag, schreddert seine roten Notenblätter und gießt diese über ihren weißen Kegel.

Der Versuch der Künstlerin, ihr „Kunstwerk“ wieder zu rekonstruieren, die roten Partikel zu entfernen, führt schließlich zu etwas Unerwarteten im Dialog mit dem Cello – zu einem Dialog des Zufalls, dem sich beide fließend überlassen.

Die Entwicklung von Spielräumen und Bewegung innerhalb festgelegter Ordnungen ist meine persönliche Antwort auf die Frage, welche Bedeutung Fluxus für die heutige Zeit haben könne.

Zusammen mit den Besucherinnen und Besuchern wird am Ende der Performance der „Barockgarten“ weggekehrt. Mit dem Verkauf des Geschredderten wird die Pflanzung eines Baumes finanziert, der im Herbst 2023 auf der Kulturmeile Wiesbaden in Kooperation mit dem Grünflächenamt gepflanzt werden wird: Der Fluxusbaum.

Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, alte Schriftstücke und Konzepte mitzubringen, zu schreddern und zu Skulpturen und Bildern am Boden zu kehren bzw. in den „Pool“ von Schredderpartikeln einzuarbeiten.

Der Schauspieler und Regisseur Mario Krichbaum dreht während der 3 Performances ein Video, das im Bellevue-Saal gezeigt werden wird und die Interaktionen zwischen den Performances begleitet.

ORDNUNGEN / EXISTENZMUSTER / DIALOGE

© Marie Luise Gruhne, August 2022

Architektonische Strukturen erinnern in meiner Arbeit universale Existenzmuster: Tragen und Lasten im Gleichgewicht, Gesetze der Schwerkraft, Naturgesetz. Ich greife sie auf als mentalen Impuls, spiele mit diesen archaischen Ordnungen, lege ein Portal hin – schützend umfängt es das Element Wasser –, bepflanze es mit Wildblumen für Bienen oder hänge ein Tor auf, bestücke es mit Federn, was seiner stabilen architektonischen Struktur zuwiderläuft, eröffne so einen Dialog zwischen naturgegebenen Gleichgewicht, Halt und dessen Vergessen.

In meinem Wandobjekten durchlebe ich prozesshaft diese Dialoge. Auf dem Hintergrund von Zufallsoperationen und einem Prozess von Malen und Schleifen gelange ich zu Ebenen weitgehender Absichtslosigkeit, das Material fordert seinen Seinsausdruck. Ich überlasse mich schrittweise seinen naturgegebenen Gesetzen. Kein Strich ist bewusst gesetzt. Die Kraft der Rückbindung an natürliche Ordnungen zu spüren und fühlbar zu erinnern, ist künstlerisches Ziel.

Suche

© Marie Luise Gruhne 2020

Ein Journalist bittet den Wirtschaftswissenschaftler Klaus Schwab auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos 2019, auf ein weißes Blatt ein Wort zu schreiben. Er möge ausdrücken, was er im Moment am schlimmsten erlebe in dieser Welt von Katastrophen – Klimawandel, machtpolitischen Entwicklungen etc..

Klaus Schwab schreibt nur ein Wort auf den großen weißen Bogen: Egoismus. Dann führt er dazu seine Diagnose aus: Die Menschen fühlen sich überfordert durch den schnellen Wandel. Sie fühlen, Sicherheiten zu verlieren. Hieraus entsteht die Abschottung - um nicht noch mehr Sicherheiten zu verlieren. Aus der Abschottung (und dem gefühlten Verlust von Sicherheit) resultiert Egoismus …. Es ist also nicht Stärke, die zu Übermacht, Besitzaneignung, wirtschaftlichem Wachstumsdrang, Effizienz- und Optimierungsstreben führt. Aus dieser Sicht gewertet ist der Auslöser jenes destruktiven Agierens Schwäche, Unsicherheit und auch Angst.

Der Philosoph Odo Marquard (https://www.nzz.ch/feuilleton/der-skeptische-optimist-1.18542270) wirbt für „Verzögerungen“ in Zeiten des schnellen Wandelns wie der Destabilisierungen: Er wirbt für Verzögerungen im Agieren, die durch die Kunst, Rituale, Rückwärtsgewandtes (nichts Altmodisches, sondern wurzelhaft Echtes – Bestand also) in uns Menschen ausgelöst werden können. Sie führten heraus aus dieser Schnelligkeit, hinein in ein Kraftfeld von Konstanz und Erhabenheit.

Und Hartmut Rosa schließlich spricht als Soziologe von Resonanzerfahrungen oder Resonanzachsen, die dem Menschen ein stabiles "In-der-Welt-Sein" ermöglichen. Er beschreibt ein Erleben (= Resonanzerfahrungen) in der Natur oder durch Musik, durch die der Mensch sich berühren lassen kann, er beschreibt dies als Resonanzachse, durch die der Mensch (wieder) Halt findet und aus dem aktuellen Suboptimierungsdenken heraus mit der Welt (offen – nicht weiter vorwärtsstürmend: meine Anmerkung) in Resonanz treten kann (https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-rosa-ueber-sein-buch-resonanz-entschleunigung-ist.1008.de.html?dram:article_id=347513).

Zusammengefasst geht es für mich hierbei in allem um Sehnsucht und Rezepte zum Wiederfinden einer verlorenen Stabilität, um verlorene Sicherheiten. Und es zeichnet sich so etwas wie das Erleben einer Sinnlosigkeit ab, diese Sicherheiten wiedergewinnen zu können auf den bisher genommenen Wegen.

Auf meiner Suche nach etwas Konstantem in ursprünglichen Kontexten – wie jenen Regeln und Gesetzen des Natürlichen unterhalb der von Menschen gemachten Parallelgesetzen – bin ich auf eine Besonderheit aufmerksam geworden. Ich spreche von architektonischen Strukturen, die seit jeher in den unterschiedlichsten Kulturarealen – in Gestalt von Tempeln, Toren oder auch Türmen – mit der Suche des Menschen nach etwas Konstantem, Haltgebenden in unserer Vorstellung assoziiert werden. Sie sind bildhafter Ausdruck der Suche des Menschen nach Orientierung und Stabilität. Kraftformen. Wir stehen davor und halte inne, fühlen Erhabenheit. Die von ihnen ausgehenden, in ihrer Tiefe für jeden von uns fast unerklärbaren Wirkungen erklären sich mir in der Weise, dass sich in diesen Strukturen sinnfällig die Gesetze der Schwerkraft, vorrangigste Grundlage und Bedingung unserer Existenz, visualisieren. Es ist wie eine Erinnerung von etwas immer Vorhandenem, etwas, das in uns unbewusst das Gefühl von Sicherheit hervorruft, einer Sicherheit unseres Bestandes. Wir fühlen uns ruhig, entspannen…

Die Öffnungen in der Gestalt des Tores oder Tempelportals ergänzen diese innere Botschaft um die Botschaft von der schöpferischen Möglichkeit des Menschen durch neue Blickwinkel oder auch Kontemplation, ein unter ablenkenden, auch destruktiven Entwicklungen verborgenes harmonisches „Dahinter“ – immer wieder aufzufinden und anzuknüpfen.
Ich habe schließlich diese Strukturen als geistigen Impuls – nicht also als Motiv – in meine Arbeiten aufgenommen, um diese Kraft zu erinnern.

Die Erinnerung jener natürlich gegebenen Stabilität oder Sicherheit in uns bzw. unserer Verbundenheit mit dem Natürlichen ist Ausgangspunkt in meinem künstlerischen Agieren – sei der Ansatz ein gesellschaftspolitisch, ökologisch oder vom Schwerpunkt mehr psychologisch oder philosophisch motivierter. In meinen Objekten versuche ich Spielräume entstehen zu lassen, die solche Resonanzerfahrungen möglich machen:

Ikarus (2018/2020) oder der Ikarus Tempel, als eine gesellschaftspolitisch ökologisch motivierte Arbeit, erinnert die Grenzen eines (unseres) unausgesetzten Wachstumsdrangs. Das Objekt erinnert an etwas Fliegendes mit seinen Federn. Es zeigt diese Federn aber auf dem Hintergrund bzw. in dem Rahmen einer architektonisch anmutenden Gestalt, einem Portal, das diesem Flug entgegenwirkt in seinem „stabilen“ Sein – dann aber wieder schwebt?

Die Arbeit visualisiert den Gegensatz, aber auch hoffnungsvollen Dialog zwischen einem menschlichen Streben, das die Gesetze der Natur innerhalb seines Effizienz- und Optimierungsstrebens ignoriert – im Höhen-Flug durch seine überzogenen Bewegungen den Halt verliert, seine eigene Existenzgrundlage vernichtend – und einer möglichen Rückbesinnung auf die Grundlagen unserer Existenz auf der anderen Seite, visualisiert durch jene uralten stabilisierenden architektonischen Strukturen. Strukturen, durch die dieser Höhen-Flug bildlich aufgefangen wird.

Das Objekt Ikarus spiegelt einen Dialog, in dem die menschliche Schwäche eines Ego ohne inneren Halt, einem „Halt-los“ agierenden Ego damit, durch einen wiederaufgefundenen Halt harmonisierend aufgefangen werden kann. Es erinnert Anknüpfungen – Anknüpfungsmöglichkeiten wie jene Resonanzerfahrungen des Menschen in der Natur, in Musik und Kunst, die nach Hartmut Rosa uns in ein stabiles „In-der-Welt-sein“ zurückzurufen vermögen.

In der in Planung befindlichen großen Installation mit „Ikarus“ erfährt dieser Ansatz eine Erweiterung.

GEDANKEN ZU DEN WERKEN

© Marie Luise Gruhne 2017 – 2020

Die Auflösung traditioneller Einordnungen und Bewertungen bei der Wahrnehmung von Sichtbarem führt mich in meiner Arbeit in unterschiedliche Auflösungsprozesse.

Wandobjekte und frei hängende Objekte

In den Wandobjekten entwickeln sich diese Prozesse dialogisch inmitten der Materie. Materie wirkt hierbei wie ein Regulativ: Ich gehe mit ihr in einen Dialog, lasse mich aus eigenen Intentionen heraus zur materiellen Substanz ziehen, überlasse ihr die Führung. Schleifen und Farbauftrag stehen im Wechsel nebeneinander - wie das Entdecken, Aufdecken und Freilegen von Materie unter einem Verdecktsein. Reliefhafte Strukturen erinnern an die architektonische Struktur eines Tempels, eines Tores oder auch eines Turms. Impulsgebend erinnern diese Strukturen an die nie endende (kontemplative) Suche des Menschen nach dem, was „Dahinter“ ist oder „Davor“..., dem Auflösen dessen, was seinem harmonischen „In-der-Welt-sein“ im Wege steht.

„procedere“ –
drei zweiseitige Objekte (2019):
Bemalte Umwicklung – umwickeltes Holz – Holz

Drei frei im Raum hängende Objekte spiegeln Auflösungen aus einem abgewandelten Blickwinkel: Drei Holzrahmen, traditionell jeweils Träger des Abbild tragenden Gewebes – klassische Basis einer künstlerischen Arbeit – , transformieren hier die ihnen eigene Form (als Quadrat oder Rechteck) zu einer metaphorischen Gestalt. An einen Tempel oder ein Tor erinnernd, spiegeln sie in ihrer veränderten Ausdrucksform den Weg einer Lösung aus einer klassischen untergeordneten Bildträger-Funktion. Innerhalb der Installation „procedere“ entgliedern sich die materiellen Substanzen eines klassischen Bildträgers bzw. Bildes durch die Abfolge: Bemalte Umwicklung – umwickeltes Holz – Holz. Materie geht dabei in einen Dialog mit ihrer Funktion, was materiell oder geistig als eine Auflösung einer „Verdeckung“, einer Überdeckung ihrer Substanz, verstanden werden kann.

„dietro di esso“(2017) – was ist “dahinter“?

Das Objekt visualisiert einen Dialog mit seinem „Verpackt- oder Bedecktsein“ – Was kann sich hinter klassischen Einordnungen und Bewertungsstrukturen eröffnen, was für uns erfahrbar werden? Auf der Höhe des Architravs drückt sich etwas von innen hervor, Kraft, die sich zu sammeln beginnt.

“good news” (2019)

ist gänzlich bedeckt mit einem Strudel aufregender Nachrichten, den “Bad oder Fake News“... Nachrichten, die einen möglichen Diskurs zersetzen, zur Destabilisierung demokratischen Lebens führen.
Die architektonische Struktur des Objektes bremst die Endlosschleife dieser Nachrichten, stellt das Ganze auf Anfang, setzt der Zersetzung Stabilität entgegen.


Autorentexte

DAEDALUS MISSES ICARUS

Von Dr. Jörg Daur, Stellvertretender Direktor, Kustos für moderne und zeitgenössische Kunst,
Museum Wiesbaden, Hessisches Landesmuseum für Kunst und Natur

Marie Luise Gruhne reduziert die Bildform auf ein Portal, einen Torbogen, der Eintritt in eine andere Sphäre sein könnte — zugleich aber auch das Hier von dem Dortigen trennt. Während in ihren Gemälden und skulpturalen Objekten das Diesseitige wörtlich im Vordergrund steht, zeigt sie uns in ihrer Video-Arbeit „Daedalus misses Icarus“ die Welt dahinter. Im Durchblick erscheint die Natur, deren Gesetze Ikarus herausfordert und damit letztlich scheitern muss.

Eine Natur aber auch, die Ruhe und Gleichgewicht zeigt — wie das Portal, das uns den Blick erst öffnet. Als architektonische Form ist es seit Jahrtausenden bekannt. Im Gleichgewicht tragen zwei Stützen das lastende Gebälk, Senkrechte und Waagerechte kommen zusammen zur Ruhe. Diese Setzung wirkt bis heute. Im Kontrast dazu erscheint das Portal des Ikarus: mit Federn bedeckt, stark als Struktur, schwebt es im Raum. Stabilität und Destabilisierung begegnen sich, regen an, eine eigene Positionierung einzunehmen.

Ein Portal zeigt an, dass ein besonderer Ort begangen wird. Beim Durchschreiten spüren wir die hohe Wertigkeit, beim Eintreten überqueren wir eine — auch sinnbildliche — Schwelle. Ein einfaches Tor dagegen vermittelt zwischen Davor und Dahinter, ein Stadttor zum Beispiel, oder das Tor eines Gehöftes oder einer Burg, das Außen und Innen, Wildnis und Sicherheit trennt. Ein freistehender Bogen wiederum, zum Beispiel in Form eines Triumphbogens, besteht als eigenständiges Objekt, dass vielmehr umschritten als nur durchschritten werden kann: ein wertiges, ein hoheitliches Symbol. Drei unterschiedliche Erscheinungsformen dieser Bauform – immer jedoch die tragenden Elemente links und rechts, und darüber das lastende, querliegende, getragene Gebälk. Und immer auch die Abhängigkeit der einzelnen Elemente voneinander.

„Kulturübergreifend erlebe ich in diesen architektonischen Strukturen eine Anknüpfung an Wirkungen von etwas zutiefst Naturgesetzlichem, Basis unserer Existenz. In ihnen fokussiert sich die Wirkung des Gesetzes der Schwerkraft, das Tragen und Lasten im Gleichgewicht, urbildhaft sich mir mitteilender Ausdruck von Dauer, Halt und Stabilität.“

Im Blick auf diese Grundform kommt ein Künstler in den Sinn, der die Sammlung des Museums prägt: Alexej von Jawlensky zeigt uns in seinen „Köpfen“ — und auch in der nachfolgenden Serie der Meditationen — ein immer wieder gleiches, in sich ruhendes Motiv. Ein Motiv der Fassung des Irdischen im unteren Teil des Kopfes und einer Öffnung in das Überirdische im Stirnbereich. Die geschlossenen Augen schließlich lasten auf dem Gesicht und geben zugleich die Gedanken frei für das Innere. Der Aufbau dieser Gemälde Jawlenskys bezieht sich nicht auf gebaute Architektur, setzt aber die Anatomie des Gesichtes ein, um mit einzelnen Pinselstrichen ein Bildwerk aus lastenden und tragenden Elementen zu schaffen. Marie Luise Gruhne bezieht sich mit dem Portal des Ikarus auf diese grundlegende künstlerische, und damit auch menschliche Erfahrung.

KUNSTVOLL UND NATURNAH
„NATURE VIVANTE“ ODER: WARUM MARIE LUISE GRUHNE KEINE ZEIT HAT …

Von Martina Caroline Conrad, Kunstkritikerin, zitiert aus “Freunde des Museum”: Kunstvoll und Naturnah / 26. Juni 2024 zur Installation „Daedalus misses Icarus“, Museum Wiesbaden 2024

Das Wetter ist einfach eine Katastrophe und doch gleichzeitig wirklich auch ein Glück – wenn es nicht geregnet hätte, wäre ich nicht ins Museum Wiesbaden gegangen. Und dann hätte ich „Daedalus misses Icarus“ noch gar nicht gesehen. Und ich hätte nicht das Bedürfnis gehabt, Marie Luise Gruhne kennenzulernen. Aber der Reihe nach …

Es ist wie so oft in den letzten Wochen: Urplötzlich öffnet sich der Himmel, und ein Schwall Wasser schwappt auf die Erde. Zum Glück ist das Museum nicht weit, und ich wollte mir die Intervention der Künstlerin Marie Luise Gruhne auf jeden Fall ansehen. Im Museum ist der Himmel plötzlich nicht mehr schwarz, sondern eine Verheißung. In der Mitte des Raumes unter einem hellen runden Oberlicht hängt ein Portal. Luftig leicht aus weißen Federn. Sacht rauscht irgendwo der Wind. An der Wand läuft eine Videoprojektion. In einem Loop von 7:23 Minuten sieht man hier die gleichen Umrisse wie beim Federnportal. Allerdings ist alles in Bewegung: Zuerst rauscht das Meer über den Strand, dann liegen Muscheln im Sand, Wind kommt auf und biegt den Strandhafer, ein blauer Himmel mit hellen Wolken und dann ein infernalisches Brausen – Kondensstreifen von Düsenjägern (Bombern?) ziehen über den Himmel, kreuzen die Toröffnung und verschwinden.

Eine große Poesie geht von dieser Installation aus. Weich und luftig, aber regungslos das Portal aus Federn – ständig in Veränderung die Videoprojektion. Aber ist das die ganze Wahrheit? Wieso schwebt das Portal, das doch an sich auf dem Boden stehen müsste? Und ist es nicht vielmehr so, dass die Federn vom kleinsten Windhauch weggeblasen werden können? Was ist stabil, was instabil? Kann man die Gesetzmäßigkeiten der Natur einfach außer Kraft setzen? Hat nicht auch Ikarus die Warnung seines Vaters Daedalus ignoriert und ist abgestürzt, als er der Sonne zu nah kam und das Wachs seiner Federflügel geschmolzen ist? Subtil vermittelt Marie Luise Gruhne in dieser traumhaften Intervention auch Bedrohung – fliegen die Düsenjäger ins Kriegsgebiet? Wie lange erfreuen wir uns an der unberührten Natur? Was bleibt, was ist vergänglich?

Diese Intervention „Daedalus misses Icarus“ im Museum Wiesbaden ist poetisch und irritierend. Sie lässt mich nicht los, setzt sich in meinem Kopf fest. Gerne würde ich mit der Künstlerin Marie Luise Gruhne darüber reden … Und am nächsten Tag rufe ich sie einfach an. Leider ist nur der Anrufbeantworter erreichbar, der meine Fragen nicht klären kann. Doch Marie Luise Gruhne ruft mich zurück. Nein, für ein Treffen hat sie keine Zeit, sie muss mit zwei Tänzern proben. Vielleicht in den nächsten Tagen? Nein, nein, sie ist völlig eingespannt, ihr Atelier derzeit vollkommen überfüllt, aber sie will sich bei mir melden.

Ich bin enttäuscht, gerne hätte ich mehr über diese tolle Intervention „Daedalus misses Icarus“ erfahren, die mir immer noch durch den Kopf geht. Nach zweimal Anrufbeantworter bei mir und einmal bei Marie Luise Gruhne kommen wir wieder zusammen. Nein, mit dem Treffen wird es nichts. Ich frage (jetzt endlich), an was sie denn aktuell arbeitet. Und jetzt wird es richtig interessant:

Marie Luise Gruhne plant die Performance „Fluxusbaum“ am 29. Juni 2024 vor dem Museum Wiesbaden. Wir telefonieren sehr lange, und die Künstlerin erklärt mir, dass das die Fortsetzung ihres Projektes „shred and clean up“ ist, das sie letztes Jahr im Kunstverein Bellevue-Saal anlässlich des Revivals FLUXUS SEXTIES verwirklicht hat. „Der Boden war raumfüllend mit Schredderpartikeln bedeckt, zeigte ornamenthaft den Grundriss eines Barockgartens – in der Inszenierung ist er Zitat einer ganz und gar künstlichen, erdachten Ordnung, mit der der Mensch seinerzeit suchte, die Natur zu bändigen und seinen Plänen anzupassen. Das im Wiesbadener Bellevue-Saal auf dem Boden entwickelte Bild besteht aus geschredderten alten Briefen, Entwürfen, Musiknoten, Konzepten, Plänen. Wie all die anderen Intentionen, Erwartungen, Kategorisierungen in der Performance wird dieses Bild schließlich weggekehrt werden, für etwas Neues Platz schaffen.“

Marie Luise Gruhne hat den Schredder verkauft und aus dem Erlös die Performance „Fluxusbaum“ konzipiert. Direkt auf der Verkehrsinsel vor dem Museum Wiesbaden wird dieser Baum gepflanzt, und zwei Tänzer werden die dazugehörige Choreografie einer zehnminütigen Aufführung umsetzen. Die Künstlerin erklärt mir, dass sie traurig ist, weil sich immer mehr Menschen von der Natur abwenden. Sie sucht in der Kunst nach Kraft und Dauerhaftigkeit, nach Halt, wenn alles in Bewegung ist. Es ist nicht explizit die Rede von Krieg oder Klimawandel, aber im Rückblick auf Fluxus gibt es zahlreiche Parallelitäten – man denke nur an den „Lipstick Bomber“ von Wolf Vostell.

Also, ich muss auf jeden Fall am Samstag, 29. Juni 2024, zu dieser Performance gehen: Treffpunkt am Bellevue-Saal, Wilhelmstraße 32, um 15.30 Uhr, Start 16 Uhr, von da aus geht es dann zur Pflanzstelle vor dem Museum Wiesbaden. Dann werde ich auch wieder zur Arbeit „Daedalus misses Icarus“ gehen. Und vielleicht habe ich dann die Gelegenheit, mit Marie Luise Gruhne darüber zu sprechen. Ich sehe die Intervention noch immer in Gedanken vor mir: Federleicht ist das Tor wie eine Verheißung – ein Weg aus der Realität in eine andere Welt? Eine Welt am Meer mit lichten Wolken oder ein Kriegsszenario mit Düsenjägern? Marie Luise Gruhne hat mir schon mal erklärt, dass das Tor für sie ein Zeichen ist – ein kulturübergreifendes Symbol. Auf der ganzen Welt haben Portale, Tore in allen Zeiten eine Rolle gespielt: Man blickt oder geht hindurch. Vielleicht hat man die Chance auf Veränderung? Oder ist es eher die Suche nach etwas Dauerhaftem?

Ach ja – da war doch noch „nature vivante“. Dieser Begriff ist mir spontan vor der Intervention eingefallen, ein Gegenpol zu „nature morte“. Sie erinnern sich: Unter „nature morte“ haben Künstler über Jahrhunderte hinweg Dinge in einem Bild zum Stillleben vereint: tote Fasane, Kerzen und Vasen … Auch in „Daedalus misses Icarus“ geht es um Verbindungen, aber nicht um leblose Gegenstände, sondern um das Leben und die Hoffnung.

RÜCKZUGSORTE, KUNST DER ABSICHTSLOSEN „MUSSE“

Von Prof. Dr. Matthias Müller, Juni 2019

Wer in den letzten Monaten Gelegenheit hatte, Marie Luise Gruhne in Wiesbaden zu besuchen, um sich einen Eindruck von ihrer Kunst zu verschaffen, wurde in der Regel nicht gleich ins Atelier, sondern auf einen Dachboden geführt. Dort stand der Besucher – zunächst vollkommen alleine – in einem großen, weitgehend leeren und durch ein spitzzulaufendes Satteldach nach oben abgeschlossenen Raum.

Dessen konstruktives, von offen liegenden Sparren und Dachziegeln bestimmtes Erscheinungsbild vermittelte in seiner rohen Schlichtheit den Inbegriff eines Dachraumes, der aus konstruktiven Gründen unablösbar zum Haus mit seinen darunter befindlichen Wohnräumen dazugehört, der aber zugleich doch auch – um mit Michel Foucault zu sprechen – ein „Anderort“ ist, d.h. ein Ort außerhalb der ständigen Wahrnehmung, der aber zentral in unser Leben integriert ist. Als ein solcher „Anderort“ oder auch eine „Heterotopie“ ist der Dachboden der ideale Ort zum Ablagern von Gegenständen, die von den Hausbewohnern nicht oder nur temporär genutzt werden, darunter Erinnerungsstücke, die zwar ihren direkten Nutzen verloren haben, jedoch mit einer Vielzahl von persönlichen Erinnerungen behaftet sind.

Auch der Dachboden bei Marie Luise Gruhne war nicht leer, doch statt Kisten oder alten Gegenständen erblickte der Besucher ein einzelnes Objekt, mit dem er überhaupt nicht gerechnet hatte: An der hinteren giebelseitigen Rückwand des Dachbodens erhob sich vor der rohbelassenen Ziegelwand ein strahlend helles, weißleuchtendes Gebilde, das wie das ätherisch-immaterielle Abbild eines Tores, eines Portals, eines Tempelportals, erschien. Die Wirkung war geradezu surreal und von einer starken Symbolkraft. Denn in der dämmrigen Abgeschiedenheit des Dachbodens wirkte dieses hell-leuchtende portalähnliche Gebilde wie aus einer anderen Welt und forderte den Betrachter geradezu demonstrativ dazu auf, inne zu halten und sich imaginativ in eine Welt außerhalb der engen Begrenztheit des Dachbodens aber auch des gesamten Hauses zu versetzen.

In seiner Fremdartigkeit, die so gar nicht zu einem Dachboden passte, und seiner würdevollen Erhabenheit, die durch die vollkommen reduzierte, stereometrische Form sowie makellose Helligkeit und Reinheit des Materials erzeugt wurde, entzog sich das portalähnliche Objekt einem schnellen interpretativen Verständnis und sorgte für ein stark retardierendes Moment, eine Stillstellung des gewöhnlichen Raum-Zeitempfindens und damit für einen Moment der Ruhe und der Selbstbesinnung. Wer sich auf diesen Moment der sich imaginativ ereignenden Außerkraftsetzung von Raum und Zeit einließ, konnte vor dem portalähnlichen Objekt zumindest ansatzweise jenen seelischen Zustand verspüren, den die griechischen Philosophen (so Aristoteles und Cicero) mit dem Begriff „Otium“, d.h. der schöpferischen „Muße“ (vom althochdeutschen „muoza“ bzw. mittelhochdeutschen „muoze“, im Sinne von „Gelegenheit“ bzw. „Möglichkeit“), und die Theologen der großen Weltreligionen mit den Begriffen „Kontemplation“ oder „Meditation“ beschrieben – Begriffe und Zustände, die nicht nur in unserer heutigen, sondern auch in früheren schnelllebigen Zeiten bewusst als ideeller wie praxisbezogener Gegenentwurf zur bestehenden, schon immer von Rastlosigkeit und Wandel bestimmten Welt formuliert worden sind.

Die solchermaßen durch das Tempelportal implizierte Aufforderung zum Innehalten ist aber zugleich auch eine Aufforderung zur Reflexion über die Bedeutung von Raum an sich, d.h. von Raum in seiner irdischen und transzendenten Erscheinung und in seinen verschiedenen Ebenen vor und hinter dem Portal. Und es ist ein Anstoß, über die Position von uns selbst in diesen verschiedenartigen Räumen nachzudenken, Räumen von denen wir nur teilweise physisch-körperlich Besitz ergreifen können, da sich der durch das Tempelportal bezeichnete ideelle, von einer zeitlosen Erhabenheit bestimmte Raum unserem haptischen Zugriff entzieht und allenfalls in unseren bildhaften Vorstellungen Träumen oder Gefühlen konkrete Gestalt annimmt. Damit markiert das Tempelportal einen Zwischenraum und eine Schwelle, einen Übergang von dem physisch realen äußeren Raum unserer alltäglichen Erfahrung in den ebenso realen, jedoch imaginär-transzendenten Raum unserer von Gedanken, Wünschen, Ängsten und Hoffnungen bestimmten seelisch-geistigen, emotionalen Innenwelt und ihrer soziokulturellen sowie kulturgeschichtlichen Prägungen.

Diese besondere Qualität des Tempelportals kennzeichnet nun eine ganze Serie von künstlerischen Arbeiten Marie Luise Gruhnes. Für diese Werke ist das Tempelportal gewissermaßen ein ideales Urmodell bzw. – im Sinne Platons – die zum dreidimensionalen Bild gewordene Form eines absoluten geistigen Prinzips. Anders als das Objekt auf dem Dachboden, das durch seine körperhaft-dreidimensionale Plastizität wie eine Architektur erschien, wirken die kleineren und überwiegend auch farbigen Objekte im Atelier auf den ersten, oberflächlichen Blick wie Tafelbilder. Auch ihre Binnenstruktur, die eine dem Tempelportal auf dem Dachboden ähnliche Struktur aufweist, lassen diese Objekte zunächst wie Abbilder bzw. bildhafte Vergegenwärtigungen des Tempelportals erscheinen. Doch die Assoziation mit einem Bild ist letztlich irreführend. Denn die vermeintlichen Bilder besitzen ebenfalls eine raumhaltige und raumbezogene Materialität und Präsenz, die sie als architektonische Körper und Objekte definieren und in ihrem Umfeld regelrechte „Objekt-Räume“ ausbilden.

Auffällig an diesen Objekten ist – neben den unterschiedlichen Proportionen der Portalöffnung und der verschiedenartigen Farbigkeit – darüber hinaus ihre Oberflächengestaltung, die niemals die dem Tempelportal auf dem Dachboden eigene glatte Makellosigkeit aufweist, sondern reliefartige Erhebungen, lineare Muster, Abschabungen und Polierungen oder gar textile Umhüllungen besitzt. Wer genau hinsieht, kann auch mehrere Farbschichten erkennen, unter denen sich teilweise ganz andere, nunmehr verdeckte Farb- und Materialzustände befinden. Bereits ohne größeres Vorwissen erkennt der Betrachter darin Spuren eines Werkprozesses, einer Werkgeschichte und ahnt, dass die Künstlerin mit ihren Objekten und deren Materialien einen Prozess, eine Entwicklung, vielleicht sogar ein Ringen durchlebt. Die Objekte beginnen – um einen vielzitierten Begriff der Kunstanalyse zu verwenden – gewissermaßen zu „sprechen“, werden dabei zugleich interaktiv und involvieren auch den Betrachter, konfrontieren ihn mit ihren spurenreichen Oberflächengestaltungen, ihrer Materialikonographie und – ganz wichtig – mit ihren fein abgestuften, von sehr dunklen bis ganz hellen Tönen reichenden Farbwerten. Diese erzeugen in uns Stimmungen, regen uns an oder auch auf, wecken heiter-harmonische aber vielleicht auch heftig-impulsive Emotionen.
Bereits Barnett Newman beschäftigte sich mit der psychischen Macht der Farben und schuf zwischen 1966 und 1970 eine Serie von Farbflächen-Bildern mit dem provozierenden Titel „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue“. Wie Gruhne verstand auch Barnett Newman seine Bildwerke aufgrund ihrer geradezu körperhaften Ausstrahlung nicht einfach als „Bilder“ oder „Gemälde“, sondern als „Objekte“. Angesichts dieser aktivierenden Energie von Objekten, die sie zu regelrechten Agenten und Aktanten werden lässt, hat der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp den Begriff des „Bildakts“ entwickelt.

Andererseits ermöglicht der Vergleich von Gruhnes (und auch Newmans) Objekten mit Bildern eine höchst produktive Verbindung zur jahrhundertealten Deutungsgeschichte von Bildwerken als Gegenstände kontemplativer, spiritueller und transzendenter Erfahrung. In diese keineswegs komplikationsfreie, vielmehr von großen Spannungen und radikal ablehnender Kritik (bis hin zum „Bildersturm“) bestimmte Geschichte des Bildes reihen sich letztlich auch die Objekte Marie Luise Gruhnes ein. Sie sind damit Teil der Geschichte jener Bildwerke, die mit ihrer äußeren Form nicht nur einfach unterhalten, sondern den Betrachter zur inneren Einkehr, kreativen Muße oder auch bekehrenden Buße auffordern sollen. Dafür verlangen sie von den Betrachtern ein Bildverständnis, das sich nicht nur auf die materielle, aus Farben und Formen bestehende Wirkung konzentriert oder nach wiedererkennbaren, mimetisch dargestellten Gegenständen oder Bildmotiven sucht, sondern in den Bildwerken darüber hinaus Medien erkennt, mit deren Hilfe der Blick zugleich auf eine immaterielle, transzendente, philosophische oder gar religiös-spirituelle Dimension gelenkt werden kann. Bilder, die diesen Ansprüchen genügen und zugleich ästhetisch wie konzeptionell anspruchsvolle Kunstwerke sein sollen, haben dabei seit der Frühgeschichte des Bildes eine konfliktträchtige Voraussetzung zu berücksichtigen: die anthropologisch begründete Abhängigkeit des Menschen von bildhaften Vorstellungen und bildhaftem Denken und damit der unhintergehbare Vorrang bildlicher Imagination vor der intellektuell-geistigen Abstraktion.

Bereits im 13. Jahrhundert hat sich mit diesem Phänomen der Dominikaner Thomas von Aquin auseinandergesetzt und sich – neben einer Deutung der dabei relevanten Zusammenhänge zwischen Körper und Geist (anima forma corporis-Lehre) – auch mit dem Problem des in den Bildern „Gefangenseins“ beschäftigt. Aus einem theologisch-philosophischen Interesse heraus und hierbei an die Tradition der Bildkritik seit dem Frühchristentum anknüpfend, forderte er einen Umgang mit Bildern, der – vor allem wenn sie religiöse Inhalte vergegenwärtigen – in einem mehrstufigen Verfahren am Ende zu einer rein geistigen Schau der hinter den Bildern stehenden transzendenten Wirklichkeit und damit der göttlichen Wesenheit führt.

An dieser Stelle ergibt sich aber auch ein wesentlicher Unterschied zum Bildverständnis Marie Luise Gruhnes. Denn wenn auch in ihren Objekten Bezüge zu einer transzendenten, spirituellen Welt hergestellt werden sollen, so ist diese Welt doch zunächst nicht außerhalb der irdischen zu suchen, sondern in uns selbst vorhanden. So möchte Gruhne in ihren künstlerischen Arbeiten die in den Tiefen unserer Psyche und unseres kulturell und kulturgeschichtlich geprägten ‚Unbewusstseins‘ sowie Unterbewusstseins vorhandenen humanen Gestaltungskräfte wecken, oder, wie sie selbst formuliert, „einen Dialog mit dem, was unterhalb soziokultureller und damit auch kategorialer Erwartungen liegt, mit etwas, das uns darunter verbindet, nahe an unbewussten Prozessen in uns“ in Gang setzen.
So wie Thomas von Aquin und die christliche Bildtheologie mit Hilfe der Bilder ein übergeordnetes, absolutes und immerwährendes göttliches Prinzip (im Sinne des absolut Schönen und Guten) erfahrbar machen wollten, so ist es das Anliegen Gruhnes, absolute, archetypisch in allen Kulturen und zu allen Zeiten durch die Menschheitsgeschichte hindurch wirksame und in jedem Menschen angelegte Lebenskräfte – wie Ruhe, Zuversicht, Selbstvertrauen, Zuneigung, Empathie, Gestaltungskraft – mit Hilfe ihrer Bildwerke zu aktivieren und – im Sinne des Philosophen Julian Nida-Rümelin und seiner „Philosophie einer humanen Bildung“ – als Kraft des Humanen für die sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Prozesse einer Gesellschaft zu erschließen. Dieses Anliegen bestimmt schließlich auch den künstlerischen Arbeitsprozess selbst, der, wie Gruhne ausführt, intuitiv und frei von vorgefassten bildlichen bzw. motivischen Vorstellungen ablaufen sollte – gewissermaßen als kontemplative „Absichtslosigkeit“ - und darin eine Nähe zur traditionsreichen künstlerischen Praxis der fernöstlichen, chinesischen Kalligrafie erkennen lässt.

Gruhnes künstlerische Auffassung steht damit in einer sehr langen Tradition, die nicht nur in der jüdischen und christlichen Bildkultur verankert ist, sondern darüber hinaus auch in vergleichbar differenzierten Bild- bzw. Zeichentheorien der chinesischen Kultur – hier vor allem auch des Konfuzianismus und Daoismus mit ihrer Lehre von einer sich permanent wandelnden Welt, die doch zugleich stabil in einer kosmischen Ordnung verankert ist.

Bei allen erkennbaren und für die Qualität der Objekte bedeutenden Traditionslinien in die Geschichte des Bildes und seiner Deutung verkörpern Gruhnes Objekte aber immer auch etwas Eigenes. Etwas Eigenes nicht zuletzt auch deshalb, da die Objekte mit ihren spezifischen Formen, Farben und materiellen Strukturen eine eigenständige, aus unserer heutigen Zeit und ihren Herausforderungen geborene Überzeugung sichtbar werden lassen, über die Notwendigkeit des Innehaltens, der „Verlangsamung“ und der Selbstbesinnung nicht nur zu reden und zu schreiben, sondern diese auch zu fühlen. Für diesen über das intellektuelle Verstehen hinausgehenden Prozess eines kontemplativen, vom Zustand des „Otium“ bzw. der „Muße“ ausgehenden Empfindens sollen Gruhnes Objekte sprichwörtlich als Türöffner dienen und so die Kunst als Medium der entschleunigenden (Selbst-)Wahrnehmung in einer Zeit des beschleunigten Wandels erfahrbar machen.

Der Verfasser ist Professor für Kunstgeschichte
an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

DER FLUG DES IKARUS

‘Verlangsamung‘ im Kunstforum der MVB – eine Inszenierung mit Werken von Marie Luise Gruhne.

Ein Interview von Sylvia Bernhardt, Bernhardt & Liebermann Contemporary Art, 15.07.2019

„Dädalus warnte seinen Sohn Ikarus bei seinem Flug über dem Meer darauf zu achten, nicht zu hoch und damit zu nahe an die Sonne heranzufliegen, denn hierdurch schmelze das Wachs, mit dem die Federn befestigt seien. Und er warnte ihn, nicht zu tief zu fliegen, da die Feuchtigkeit des Meeres in die Federn dringe und ihr Gewicht ihn dann nach unten ziehe…“ (Auszug aus dem begleitenden Ausstellungstext).

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MARIE LUISE GRUHNE
WERKE 2014 – 2019
Katalog, 26 Seiten, 17 Abbildungen, ISBN: 978-3-00-063134-4

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